Das Glitzern des Drecks 2

Blockwart Karl

Federnd rollt Karl ab, wippt zwischen Zehen und Ferse hin und her, tut so, als würde er pfeifen. Was für eine verlogene Geste. Den Marsch blasen träfe es besser. Aber das konnte nur erkennen, wer genau hinsah. In dieser Bewegung steckte weniger Gemütlichkeit, als man beim Anblick des leichten Schaukelns hätte vermuten können. Dem Wippen lag ein konzentriertes, abwartendes Wesen zugrunde, welches, einer Sprungfeder gleich, bloß darauf wartete loszuschlagen. Spürbar nur für jene, die einen leisen Wind auf ihren Wangen bemerken konnten.

Rückzug oder Angriff? Was tun? Erik bleibt wie angewurzelt zwischen Mülltonnen und dem Eingang zum Hinterhaus stehen – der Rückweg ist versperrt. Nichts entgeht Karls Blick. Blockwart durch und durch. Grau und dünner als früher, deutlich abgemagert, hohle Wangen, Adlernase, schmale Lippen. Aber bis auf diese Details scheint er ganz der Alte zu sein. Unverwechselbar, Karl, Typ Feldwebel, mit Hang zur V2: gigantisches Getöse, dann Explosion und null Wirkung.

Für einen Moment hält Erik inne. Ein Fluchtweg wär schön. Jetzt. Sofort. Möglichst einer, der in weitem Bogen an dieser Gestalt vorbeiführte. Keine Chance. Da vor ihm auf dem Hof, direkt neben der geöffneten Kellertür des Seitenflügels, ein Wüterich wie er im Buche steht.

Wo war der plötzlich hergekommen? Aus dem Keller?

Flucht? Nein, heute nicht. Überrascht blicken sich beide Männer ins Gesicht. „Kennen wir uns?“ Karls Stimme knarzt quer über den Hof. „Junger Mann, ich hab sie was gefragt.“ Unfähig sich zu rühren, aller Wörter beraubt, steht Erik still und kommt keinen Schritt voran. Gott, was haben wir damals für Angst vor Dir gehabt. Jeder mutige Mordgedanke verflog, wenn wir dich sahen. Dein böser Geist lebte in den Räumen fort. Oft dauerte es Tage, bis wir merkten, wenn du für einige Zeit nicht da warst. Deine im Mauerwerk gespeicherte Wut dünstete weiterhin aus. Können Augen magnetisch sein? Verrät ihn seine Unsicherheit? „Is`zu früh am Morgen, was? Funktioniert das Oberstübchen noch nicht richtig?“ Karls Gesichtsfarbe wechselt wieder von Rosa zu Weinrot. Warum dem noch nicht die Rübe explodiert ist verstehe wer will. Ekelhafter Kerl. Früher auf dem Schulhof schlossen sie Wetten ab, ob der Typ den nächsten Wutausbruch wohl überleben würde oder nicht. Manch einer meinte, anhand der Gesichtsfarbe den Zeitpunkt für einen Schlaganfall vorhersagen zu können und einige dieser Hobbyneurologen waren davon überzeugt, dass es bis zum großen Knall nicht mehr lange hin sein dürfte. Nur bis jetzt scheint kreislauftechnisch alles bestens zu sein. Unfassbar. Hat der ein Glück.

Eriks Bemühen, die furchtsamen Gedanken aus dem Kopf zu bekommen, scheitert in der nächsten Sekunde. Ein ausweichender Blick nach oben in den Himmel und ein Frösteln bemächtigt sich seiner. Wie Stahl, das Blau dort oben. Eisig. Der Himmel so kalt wie der Hof. Es waren die Augen. Damals hatten sie gedacht, die Gefahr würde von den rasch wechselnden Rottönen in Karls Gesicht ausgehen. Von den Wutausbrüchen und den sich farblich ankündigenden Explosionen seines Wesens. Was für ein Irrtum. Es waren die Augen. Dieses frostige Stahlblau hatte sie alle in die Schranken gewiesen. Das Rot war nur die Zugabe.