Unter den vielen Dingen, die mein Vater mir hinterließ, fand sich ein kleines, unscheinbares Büchlein von Konrad Lorenz (1903-1989/Zoologe, Verhaltensforscher, Medizin-Nobelpreisträger 1973) – das war der mit den Graugänsen. Gans Martina, die 1935 schlüpfte, darf mit Fug und Recht als Lieblingsgans des Wissenschaftlers angesehen werden. Geprägt auf den Menschen, legte das Tier den Grundstein für unzählige wissenschaftliche Publikationen – vielleicht sogar für den Nobelpreis. Der Titel des vererbten Buches: „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ (Serie Piper, Band 50, München/Zürich, 16. Auf. 1983, 112 S.).
„Für Joachim Kormann, in aquatischer Verbundenheit zugeeignet. Konrad Lorenz, Altenberg 28.V.1985“
Mein Vater (Dr. Joachim Kormann, 4. Februar 1940 bis 9. April 2022, war Biologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Tierpark Berlin, leidenschaftlicher Aquarianer. Er schrieb 1970 mit „Meerestiere im Aquarium“ das erste Buch zur Salzwasseraquaristik in der DDR und war immer wieder an verschiedenen Publikationen beteiligt) hatte Konrad Lorenz während einer Dienstreise persönlich getroffen. Einen Mann, der nicht nur ein berühmter Wissenschaftler, sondern zugleich ein bekennender Nationalsozialist war. Auf jeden Fall ist seine Biographie nicht unbelastet.
Ich bin zwar immer vorsichtig/zurückhaltend, wenn es um die Übertragung biologischer Erkenntnisse (biologistisches Denken) auf kulturelle Systeme und menschliches Handeln geht – zu leicht lassen sich Ergebnisse dieser Forschungen als unumstößliche Naturgesetze interpretieren. Zu oft schon wurde mit dem Verweis auf die natürliche Ordnung der Versuch unternommen, Ideologien der Ungleichheit zu legitimieren – doch im Falle dieses Büchleins, kann ich den Text/die Verweise auf STRUKTUREIGENSCHAFTEN UND FUNKTIONSSTÖRUNGEN LEBENDER SYSTEME, ÜBERBEVÖLKERUNG, die VERWÜSTUNG DES LEBENSRAUMES, den WETTLAUF MIT SICH SELBST, den WÄRMETOD DES GEFÜHLS, den GENETISCHEN VERFALL, das ABREISSEN DER TRADITION, die INDOKTRINIERBARKEIT und die KERNWAFFEN, mehr als Ethik lesen und begreifen, auch wenn mir persönlich Hans Jonas immer näher ist. Fast so nah, wie die junge Frau in ihrem Kleinwagen, die mich mit viel Schwung in einer 30er Zone so dicht überholt, dass ich mich kaum auf dem Rad halten kann.
FAHREN SIE MAL NICHT SO WEIT LINKS!
Auf der Suche nach einem Parkplatz zählt jede Sekunde. Die Angst, jemand anderes könnte einem den letzten jemals wieder verfügbaren Stellplatz vor der Nase wegschnappen, spornt zu riskanten Überholmanövern und einer dynamischen Fahrweise an. „Was fahren sie denn auch so weit links? Und ziehen sie sich mal eine lange Hosen an, dann sind sie auch besser geschützt.“ Das Argument war mir neu. Ganz abgesehen von dieser merkwürdigen Rechtsauffassung – es scheint o.k. zu sein, einen Radfahrer, der etwas Abstand zu den rechts parkenden Fahrzeugen hält, ohne gebührenden Sicherheitsabstand zu überholen und damit dessen Gesundheit zu gefährden, wenn Zeitdruck uns treibt -, offenbart sich in diesen Situationen ein eklatanter Mangel an sozialer Kompetenz. Für Momente vergessen wir wer wir sind. Rechtfertigen unser Tun mit dem als fehlerhaft empfundenen Verhalten aller Anderen. Wir sind genervt, schütteln den Kopf, hupen, brüllen und fahren schneller als die Polizei erlaubt. Der immer als viel zu langsam empfundene Verkehr wird als Hindernis begriffen. Klar, wir brauchen unbedingt eine Autobahn mehr bis weit hinein in die Stadt. Mehr Straßen. Breitere Straßen. Höhere Geschwindigkeit. Wie wär`s denn mit mehr Bäumen und mehr Parks? Nein? Ständig sind wir in Eile. Jedes Vorhaben, und sei es noch so erholsam, wird als abzuarbeitender Termin wahrgenommen. Wir hetzen zur Kosmetik, rennen zum Yoga, entspannen für eine Stunde (darauf eine Sojalatte) und hecheln weiter und weiter. Die Ampeln auf dem Blumberger Damm folgen gefühlt einem ausgeklügelten System, welches uns ausbremmst (ich fahre mit dem X69 von rot zu rot). Wir nehmen es persönlich und sind bestrebt unser Recht auf Mobilität in die eigenen Hände zu nehmen. Wer sich nicht schnell genug bewegt, der erregt unser Mißfallen. Muß die Oma da vorn an der Kasse jetzt ihr Kleingeld zählen? Kann mir mal jemand erklären, warum der Opa auf seinen wackeligen Beinen sich nicht auf den ersten freien Platz setzt? Solange der steht, wird der Bus nicht losfahren. Herrjemine, der Typ fährt auf der Autobahn nur 100 und weil die blöde Tussi nicht rechtzeitig blinkte, steh ich jetzt hinter ihr und muß warten, bis sie links abgebogen ist. Gründe, sich aufzuregen, wohin man schaut. Wobei die Frage, ob Ampelphasen, die der Temporeduzierung dienen, in Zeiten des dringend erforderlichen Energiesparens, noch zeitgemäß sind, durchaus gestellt werden sollte.
Das Tempo bestimme ich! Nun mal schön langsam.
Egal wie alt wir sind, ob mit Rollator oder Schultasche, das Tempo bestimmen wir. Für uns und gern auch für alle anderen. Wenn wir es eilig haben, veranstalten wir Rennfahrten in der Stadt und immer dann, wenn wir auf der Suche nach unserem Stammplatz sind, uns orientieren wollen … müssen alle Anderen mal warten. HETZ MICH NICHT! Wer uns bedrängelt wird entschleunigt. Wenn der Hintermann, die Frau am Steuer hinter uns, so richtig kocht, macht Tempo 30 plötzlich Spaß. Die über Jahrzehnte hinweg eingeübte Individualisierung – jede/jeder sorge für sich selbst – trägt hektische Früchte. Weltmacht mit drei Buchstaben: ICH. Hier überholen wir in riskanter Weise, dort radeln wir ungerührt durch den Haltestellenbereich. Entschleunigung, work life balance, Selbstliebe, Achtsamkeit, Meditation etcetera pp. Tipps für ein ruhigeres, gesünderes Leben gibt`s wie Sand am Meer. Stundenlang können wir über die Langsamkeit philosophieren, doch bitte nicht jetzt. Jetzt gerade haben wir es eilig. Mit einem Gruß bedanke ich mich bei den beiden AutofahrerInnen, die mir gleichzeit per Lichthupe ein Signal geben. Im Feierabendverkehr auf sein Vorrecht zu verzichten fällt nicht immer leicht. Endlich kann ich abbiegen und Richtung Köpenick weiterfahren. Könnte trifft es besser. Ein junger Mann startet auf seinem Fahrrad ein halsbrecherisches Überholmanöver. Zuerst beschimpft er die Autofahrer und dann brüllt er mir ein wütendes „DU MUSST WARTEN!“ entgegen.
Nein junger Mann. Für mich ist es bezahlte Arbeitszeit. Warten müssen all meine Fahrgäste. Es ist ein Omnibus. Der Bus für uns alle.
Tags drauf fuhr ich ins schöne Havelland zu meinem Esel Narcisse. Gemeinsam gingen wir ein Stück. Blieben hier und da stehen. Da schau mal hier, der schöne Klee. Den muß ich erst fressen. Dann können wir weiter zum nächsten Klee. Einverstanden? Aber ja. Niemand kann Entschleunigung so gut vermitteln wie mein Esel.