Ein Grundkurs in Sachen Entschleunigung – Die Idee. Die Motivation – Gedanken zu E. A. Poe, Charles Baudelaire und Walter Benjamin.
Von flanierenden Flaneusen und Flaneuren, von Spaziergangsforschern, Männern der Menge und Botanikern der Bürgersteige. Wohin man auch schaut, das Flanieren ist ein Ausdruck von Langsamkeit. Fehlt nur noch eine Schildkröte.
Flaneur mit Schildkröte
Von „Modern Times“ (Charlie Chaplin/1889-1977, der Film wurde 1936 uraufgeführt) zu Walter Benjamin ist es nur ein kleiner Schritt. Allein das Nachdenken über Entschleunigung hat viel mit jenem Versuch zu tun, die Zeit etwas anzuhalten und wandernd, spazierend, flanierend oder promenierend – sie dürfen es sich gerne aussuchen – einen Gang herunterzuschalten. Langsamkeit will erlernt sein und Schildkröten sind gute Lehrmeister. Mehr Entschleunigung geht nicht.
All zu oft nur fühlen wir uns wie ein Hammster im Laufrad, der Charlie Chaplin gleich im Gedränge auf`s Werktor zustrebt, überwacht und gehetzt seine Arbeit verrichtet und in der Hektik des Alltags mal hierhin und mal dorthin geschoben wird – je biegsamer man ist, umso leichter flutscht man durchs Getriebe. STOP!, möchte man rufen und sich für Stunden, Tage oder Wochen, selbst Momente erscheinen als Verlockung, außerhalb dieses Systems stellen. Irgendwo etwas abseits stehend beobachten, was man selbst nur all zu gut kennt. Dort die wartenden Menschen an der Haltestelle – oft wirkt es so, als würden die geschäftigen Stunden der täglichen Betriebsamkeit ihre gierigen Hände schon bis hierher ausstrecken/oder nachwirken -, hier der Sprint die Treppe hoch zur S-Bahn. Einkäufe, anstehen, ungeduldig sein. Wir lechzen nach Ruhe und steigen, weil auch Ruhe nur das Ergebnis von Aktion sein kann, im Anschluß an einen harten Tag ins Auto, um nach zehn Kilometern Stadtverkehr kurz in unserem Lieblingscafe einzukehren.
Jeder von uns, Jede, hat Bilder im Kopf, mit denen wir solche Gedanken illustrieren. Stellen sie sich eine Menge von Menschen vor, vielleicht in einer schönen Passage in Paris, oder in Leipzig, München oder London. Schauen sie verträumt auf die glitzernden Auslagen der Geschäfte. Stehen sie still etwas abseits oder treiben sie gelassen, ziellos mit dem Strom. Gehen oder stehen sie in Gedanken an einem Ort ihrer Wahl und halten sie Ausschau nach einem Mann, der eine Schildkröte spazieren führt. Mehr Entschleunigung geht nicht.
„1839 war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff von Tempo des Flanierens in den Passagen.“ (Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk“, Bd.1, edition suhrkamp, S. 532)
Nur stimmt dieses Bild? Gab es wirklich jene eigentümliche Mode? War es schick, in den Passagen von Paris eine Schildkröte spazieren zu führen? Eine Quelle nennt Benjamin nicht und wer im Internet sucht, findet zahlreiche Artikel, die sich, so mein Eindruck, gegenseitig inspiriert haben: „Der wiederentdeckte Flaneur“ (Zukunftsinstitut.de), „Der Flaneur hat kein Ziel, keinen bestimmten Ort, von dem er kommt, und keinen Punkt, zu dem er strebt. Er ist einsam, doch er geht weiter.“ (NZZ.ch), im Flaneur-Magazin, „Die Poesie der Straße“ (auf Goethe.de entdeckt), „Flaneuse – Wie flanierende Frauen die Großstädte erobert haben“ (Deutschlandfunkkultur.de), „Spaziergangsforscher über das flanieren – Der unmittelbare Zugang zur Welt mit allen Sinnen.“ (Deutschlandfunkkultur.de) und „Gehen, spazieren, flanieren. Der Flaneur und die Stadt“ (udk-berlin.de), „Der Flaneur braucht kein Ziel“ (Revierpassagen.de), „Figuren des Müßiggangs in Literatur und Philosophie oder von der Kunst, Schildkröten spazieren zu führen“ (ein Text von Nassima Sahraoui auf Philosophie-indebatte.de). Und dann ist da noch Herr Hisao Mitani aus Tokyo, der zusammen mit seiner Riesenschildkröte spazieren geht. Gaaaanz langsam (Youtube. Riesenschildkröte statt Hund: Gassi gehen – gaaanz langsam). Schildkröten wohin man schaut. Man könnte meinen, flanieren ohne Schildkröte wär unmöglich. Und immer wieder wird Edgar Allen Poe`s Erzählung „Der Mann der Menge“, in der unser Flaneur angeblich die Bühne der Welt betrat, bemüht. Mal ist er als Botaniker des Bürgersteigs unterwegs oder flaniert als Dandy über die Boulevards seiner Stadt. Haufenweise schöne Zitate, die Poe, Baudelaire und Benjamin zugeordnet werden. Nur eine Quelle, nach der es tatsächlich Mode war, sich von einer Schildkröte entschleunigen zu lassen, die fehlt, weil gemeinhin davon ausgegangen wird, dass Walter Benjamin hier ein Bild aus Worten malte, um seine Gedanken zu illustrieren. Hat er? Und wo finden sich bei Baudelaire die Botaniker des Asphalts?
Ich schnappe mir den Sammelband mit Poe-Erzählungen, hole die Baudelaire Werkausgabe aus dem Keller und lege E.T.A. Hoffmann „Des Vetters Eckfenster“ bereit. Beginne im „Mann der Menge“ zu lesen (zu suchen) und finde keinen Flaneur. Nichts, was in diese Richtung deutet. Da flaniert kein Flaneur.
„Als es dunkel wurde, nahm das Gedränge mit jedem Augenblick noch zu und im Licht der Straßenlaterne strömte die Menge in zwei dichten, ununterbrochenen Reihen am Fenster vorbei; herauf und hinab. (…) und das unruhige Auf- und Abwogen der tausendköpfigen Menge brachte mich in eine ganz neue, köstliche Aufregung.“ (E. A. Poe, „Der Mann der Menge“, in Poe ERZÄHLUNGEN, Verlag Neues Leben, Berlin 1987, S. 174)
Die Szene, die Motivation, der Ort und die Zeit. Alles paßt mehr oder weniger zu meinen Vorstellungen, die ich vom Flanieren habe. Wobei ich im weiteren Verlauf der Handlung meine Zweifel hätte, weil ich die gezielte Verfolgung doch mehr als Detektivgeschichte lese und in der aktiven Rolle des Erzählers nicht jene Langsamkeit und Ziellosigkeit entdecke, die ich von einem Flaneur erwarte. Doch das Hauptproblem für mein eigenes Verstehen: wo zum Kuckuck steckt der Flaneur in dieser Geschichte, von dem alle immer sprechen? Und Baudelaire scheint über Botanik nicht sonderlich viel nachgedacht zu haben. Wenn wir schon mal dabei sind … Wobei seine Ausführungen zu Haschisch von einem gewissen botanischen Interesse zeugen. Als Dandy bekifft flanieren wär mal ein Thema. Ich glaub, das würde sich eher bei ihm finden.
Die Suche geht weiter und ich durchforste das „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“ (Hrsg. von Rosemarie Heise/Aufbau Verlag Berlin u. Weimar 1971). „Spleen von Paris“ (Baudelairs) und Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (bei C.H. Beck, München, 3. Aufl. 2012, 1580 S) liegen bereit. Seiten voller Geschichte und Geschichten. Voll von unendlichem Wissen … nur leider ohne Schildkrötenflaneure in den Passagen von Paris. Also in keinen Passagen … nirgendwo.
Doch inzwischen habe ich mich festgebissen. Jetzt will ich es wissen, warum alle Welt, sogar Wikipedia, den Flaneur bei Poe sieht und ich selbst ein Flaneurchen nicht entdecken kann. Mein Suchen führt mich zu Elisabeth Monika Hartmann und ihrem Text „Flanerie in der Literatur. E.A. Poe, C. Baudelaire, S. Krakauer, E.T.A. Hoffmann, W. Benjamin, F. Hessel“, bei Grin.com Ein kluger Text mit vielen Quellenangaben und weil meine eigentliche Frage auch hier nicht abschließend beantwortet wird, nehme ich Kontakt zur Autorin auf und bekomme endlich bestätigt, was ich mir die ganze Zeit schon dachte: der Flaneur wurde Poe und seinem „Mann der Menge“ angedichtet. Eine Zuschreibung, für die man heute gern Baudelaire und Benjamin zitiert.
„Erinnert sich der Leser eines Bildes – es ist wahrhaftig ein Bild! – das von einer der gewaltigsten Federn unserer Zeit geschrieben ist und den Titel trägt Der Mann der Menge? Hinter einer Scheibe in einem Café sitzt ein Genesender, betrachtet genußvoll die Menge und vermischt in Gedanken sich selbst mit allen Gedanken, die um ihn her tätig sind. (…) Die Neugier ist zu einer verhängnisvollen, unwiderstehlichen Leidenschaft geworden! (…) Ich würde ihn gern einen Dandy nennen und hätte einige gute Gründe dafür; denn das Wort Dandy enthält den Begriff eines quintessentiellen Charakters. (…) Die Menge ist sein Gebiet, wie die Luft des Vogels, wie das Wasser des Fisches Gebiet ist. Seine Leidenschaft und sein Beruf ist, sich der Menge zu vemählen. Für den vollkommenen FLANEUR, für den passionierten Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, in der Masse zu hausen.“ (Charles Baudelaire, „Der Künstler, ein Mann der Welt, ein Mann der Menge und ein Kind“, (aus den Guys Essays/Der Maler des mod. Lebens von 1863) in Gesammelte Schriften, Bd. 4, Melzer Verlag, Dreieich, 1981, S. 276, 277, 280)
Meinem Kenntnisstande nach ist dieses Zitat aus den Guys-Essays, die Baudelaire dem Maler Constantin Guys widmete. Eine der wenigen Textstellen, (wenn nicht gar die einzige), wo Baudelaire vom Flaneur spricht. Häufiger benutzt er Dandy und dandysm. (C. Baudelaire, z.B. in „Die Fanfarlo“, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Melzer 1981, S. 28)
„Den Fall, in dem der Flaneur sich ganz vom Typ des philosophischen Spaziergängers entfernt und die Züge des unstet in einer sozialen Wildnis schweifenden Werwolfs annimmt, hat Poe zuerst in seinem „Mann der Menge“ auf immer fixiert.“ (Walter Benjamin, Passagen-Werk, Bd. 1, edition suhrkamp, S. 526)
So entstehen Mythen. Und was ist nun mit dem Flaneur in den Pariser Passagen? Was hat es mit der Schildkrötenmode auf sich und warum E.T.A. Hoffmann? Meine Suche nach der Langsamkeit treibt mich weiter durch Seiten der verschiedensten Bücher. Ich entdecke/begreife, dass W. Benjamin den Flaneur regelrecht in Poes Schaffen hineintrug:
„der flaneur ist für Poe vor allem einer, dem es in seiner eigenen Gesellschaft nicht geheur ist. Darum sucht er die Menge; nicht wit davon wird der Grund, aus dem er sich in ihr verbirgt, zu suchen sein.“ (Walter Benjamin, „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, mit einem Vorwort von Rosemarie Heise Hrsg., Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1971, 1. Aufl., S. 77)
Im Band II des Passagen Werks, der in den Frühen Entwürfen, angefangen bei Seite 1041, ein Kapitel mit der Überschrift „Passagen“ enthält, taucht die Schildkröte wieder auf. Das entwickelt sich zum Fachbuch.
„1839 kam über Paris eine Schildkrötenmode. Man kann sich gut vorstellen, wie die Elegants in den Passagen leichter noch als auf den Boulevards das Tempo dieser Geschöpfe annahm.“ (W.B., PW, Bd. 2, S. 1054)
Klingt das wirklich ausgedacht? Sind zwei unterschiedlich formulierte Textstellen ein Bild aus Wörtern gemalt? Und warum findet sich in seinem Text „Der Flaneur“ ein weiterer, dritter Hinweis? Diesmal mit einer anderen Jahreszahl.
„Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagenspazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern von ihnen sein Tempo vorschreiben.“ (Benjamin, „Charles Baudelaire“, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 47, mit einem Vorwort von Rolf Tiedemann (Hrsg.), S. 52)
Hier findet sich übrigens auch das berühmte Zitat von den Flaneuren, die in aller Gemächlichkeit auf dem Asphalt botanisieren gehen. (ebd. S. 34)
Ich weiß nicht, was Benjamin im Einzelnen bewog, sich derart ausführlich, über eine lange Schaffensperiode hinweg, mit der Menge bei Poe und der Rezeption durch Baudelaire, den Passagen in Paris und dem Flaneur zu beschäftigen. Hatte doch das Zeitalter der Moderne die meisten Gesellschaften längst eingeholt. Mir fallen noch A. Gide und V. Hugo ein und ich überlege, wo ich weitere Spuren finden könnte, die ein Flaneur oder eine Flaneuse hier und da in der Literatur hinterließ. Ich fische mir Louis Aragons „Der Pariser Bauer“ aus dem Regal und erinnere mich der Schilderungen über die Passage de l´Opera und den Bvd. Haussmann. Wenn ich nur mehr Zeit hätte und es mir wichtiger wär … ich würde hier nach den Schildkröteneiern suchen, aus denen Benjamin seine Schildkröten ausbrütete. Den Hoffmann und sein Eckfenster schiebe ich zur Seite und bei nächstbester Gelegenheit werde ich wieder flanieren, spazieren, laufen, gehen, wandern, promenieren. Müßiggang betreiben und mich in der Kunst des Nichtstuns üben – in Bewegung sein und leise und mit Interesse, Neugierig und unauffällig meine Umgebung beobachten. Sehen und dabei möglichst selber nicht gesehen werden. Umherstreifen und Beobachtungen bewahren. Die Art, wie ich die Flanerie begreife, ist eine Form der Aneignung ohne Inbesitznahme. Manchmal einsam und kontemplativ. Ziellosigkeit für den Moment gehört unbedingt dazu. Etwas außerhalb einer Menge, um die Eindrücke derselben teilen zu können. Wer sich zurücknehmen kann, wer sich herumstreunend und zeitverschwendend emanzipiert, der hat schon den ersten Schritt als Flaneuse oder Flaneur getan. Machen sie sich verdächtig! Tun sie nichts.
Und was entdecke ich, als ich L. Aragons „Der Pariser Bauer“ zurück ins Regal stelle? Ein Walter Benjamin Zitat, mit welchem ich mir für heute verabschieden möchte: „Aragon – der Paysan de Paris, von dem ich des Abends im Bett nie mehr als zwei bis drei Seiten lesen konnte, weil mein Herzklopfen dann so stark wurde, daß ich das Buch aus der Hand legen mußte.“